von Werner Hajek

 Gleich zwei Ostermärsche gab es diesmal in Flensburg. „Typisch für diese Stadt, von allem gibt es immer zwei, und nie werden sie sich einig“, so beklagte sich eine Teilnehmerin der Kundgebung am Nordertor. Einigkeit für die zerstrittene Friedensszene? Ein nachvollziehbarer Wunsch. Schließlich ist eine zerstrittene Friedensszene ein Widerspruch in sich, oder?

 Doch bevor wir auf den Kern des Differenzen zurückkommen, werfen wir erst einmal einen Blick auf die Akteure. Am Nordertor folgten bis zu 150 Friedensbewegte dem Aufruf vom Netzwerk Friedenskooperative und der DFG/VK-Ortsgruppe zur Kundgebung und zum Marsch für Frieden und Abrüstung. Alles ganz traditionell? Nicht nach Flensburger Neusprech. Denn unter dem irreführenden Etikett „Traditioneller Ostermarsch“ wollten andere Akteure die erhofften Massen beim tausend Meter entfernten Gewerkschaftshaus versammeln. Neben dem DGB unterzeichneten die evangelische Kirchengemeinden und die Ortsgruppen von SPD, Grünen und Linken den Aufruf für Frieden und Aufrüstung.

 „Für Frieden und AUFRÜSTUNG“? Leider kein Schreibfehler. Ein wörtliches Zitat aus dem Aufruf ließ tatsächlich die entscheidende Frage ergebnisoffen im Raum stehen: „Muss Deutschland mehr Geld in Rüstung stecken, verbunden mit der Frage, ob das Zwei-Prozent Ziel der NATO nun sinnvoll erscheint oder nicht?“ Laut Auskunft einiger Linker hätten mehrere andere Gruppen sonst nicht mitmachen wollen. Die Quittung war eine Abstimmung mit den Füßen. Die gesammelte Kraft der aufrufenden Organisationen brachte nur eine Schar von, laut Tageszeitung, 60 bis 80 Teilnehmern zusammen, zu wenige. Also blieb es bei einer Kundgebung; der aufrüstungsoffene Abrüstungsmarsch wurde erst gar nicht angetreten.

 Ich hatte mich sowieso für den echten Ostermarsch-Klassiker der örtlichen DFG/VK entschieden. Gut zu sprechen bin ich auf diesen Verein allerdings nicht. Mich stören seine Aufrufe, der angegriffenen Ukraine den Waffennachschub zu sperren. Mich stört die ewige Täter/Opfer-Verkehrung, nach der „militärische Verteidigung Selbstzerstörung ist“. Mich stört das übergroße Verständnis für das bedrohte, angeblich friedliebende Russland.

 Nun gut, der erste Schritt zum Dialog beginnt mit dem Zuhören. Das wollte ich, und ich traf auf friedliche Menschen, freundliche Stimmung, auf einen Auftakt mit einen Mey-Song gegen den Krieg und auf einen schamanischen Friedenstrommler zum Abschluss.

 Dass die Redner das Altbekannte wiederholten – geschenkt! Dass die offiziell parteipolitisch neutrale Demonstration von einem großen Banner der kommunistischen Jugendorganisation SDAJ begleitet wurde – auch geschenkt! Ich bin ja nicht mitgelaufen.

 Interessanter ist die eingangs zitierte Frage der Kundgebungsteilnehmerin vom Nordertor: Warum zwei Osterdemonstrationen?

 Was trennt diese gespaltene Flensburger Friedens-Szene, und wo hat sie vielleicht doch einen gemeinsamen Nenner? Hier meine persönliche Einschätzung: Die Spaltung besorgen zwei „unsichtbare Elefanten im Wohnzimmer“: nämlich die politischen und militärischen Machtbestrebungen Russlands einerseits, die politischen und militärischen Machtbestrebungen der USA und Deutschlands andererseits. Die Redner der beiden Kundgebungen nehmen jeweils nur einen der beiden Elefanten wahr, vor dem anderen drücken sie ein Auge zu. Einzelne Zuhörer sahen das am Nordertor beidäugiger.

 Womit wir bei dem sind, was die meisten Friedensbewegten verbinden könnte:
- Das Mitleiden mit den Opfern
- Die Forderung, dass Menschen überall friedlich und selbstbestimmt leben sollen
- Der Einsatz gegen die brandgefährliche Zuspitzung der internationalen Lage
- Die Furcht vor einem ukrainischen Atomkraft-GAU oder einem Atomkrieg
- Der Protest gegen eine heißlaufende Rüstungsspirale
- Und vor allem die Erwartung, dass die vorhandenen Mittel und Fähigkeiten für wirklich wichtige Menschheitsaufgaben gebündelt werden müssen: für globale Gerechtigkeit und die sozialverträgliche Abfederung der Folgen der Erderwärmung

Reicht das für eine gemeinsame Basis?

 

 

Liebe Attac-Regionalgruppen!

Auf dem Frühjahrsratschlag wurde über das Positionspapier abgestimmt, dabei erreichte das Papier eine mehrheitliche Zustimmung, es wurden aber auch 17 Vetos eingelegt. Die Themenfelder 2 und 3 waren
auf Wunsch der BAG WTO ausgeklammert, da diese BAG hierzu noch Vorschläge einreichen wird.

Ein Teil der Vetos wurde damit begründet, dass mehr Zeit für die Diskussion in Regionalgruppen und BAGs gebraucht würde.
WIR LADEN DAHER ALLE REGIONALGRUPPEN UND BAGS EIN MITZUWIRKEN UND BIS ZUM 15.8.23 ÄNDERUNGSANTRÄGE EINZUREICHEN AN Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Hier findet ihr die aktuelle Version des Papiers mit den auf dem Frühjahrsratschlag vereinbarten Änderungen:
HIER anklicken ...

In die Themenfeldern 2 Handel und 3 Privatisierung werden wir bis Mitte Mai die mit der BAG WTO abgesprochenen Änderungen einarbeiten. Wir schicken Euch dann eine aktualisierte Version dieser Themenfelder
zu, dann könnt ihr auch dazu Änderungsvorschläge einreichen. Die inhaltlichen Vetos werden in einer Konsensrunde besprochen Auf dem Herbstratschlag, der vermutlich Ende Oktober stattfindet, wird das
überarbeitete Papier zur nächsten Abstimmung gestellt. Diese Version - sowie ggf. eine Übersicht über nicht übernommene Änderungsanträge - erhaltet ihr mindestens 4 Wochen vor dem Herbstratschlag.

Liebe Grüße,
Julia für die Moderationsgruppe Erneuerungsprozess

 

 

Deutscher Diplomat fordert Einigung der NATO auf „westliche Kriegsziele“ in der Ukraine. Neue Quellen belegen: Der Westen verhinderte im Frühjahr 2022 ein rasches Kriegsende.

 

 

BERLIN/WASHINGTON/KIEW (Eigener Bericht) – Der frühere Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, fordert eine Einigung in der NATO auf „die westlichen [!] Kriegsziele“ im Ukraine-Krieg. Um diese festzulegen, solle „eine politisch-strategische Kontaktgruppe“ eingerichtet werden, erklärt der deutsche Diplomat. So müsse etwa festgestellt werden, ob man „die Ukraine ermuntern“ wolle, „die Krim militärisch zurückzuerobern“. Mit der Bildung einer solchen „Kontaktgruppe“ übernähme der Westen faktisch völlig offen die Kontrolle über das ukrainische Vorgehen in dem Krieg, dessen frühzeitige Beendigung er zahlreichen Quellen zufolge Ende März bzw. Anfang April vergangenen Jahres erfolgreich sabotierte. Das zeigen Berichte britischer und ukrainischer Medien wie auch Schilderungen bekannter US-Russland-Expertinnen und des früheren israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett, die von Recherchen des ehemaligen UN-Diplomaten Michael von der Schulenburg bestätigt werden. Demnach scheiterte ein fast fertig ausgehandeltes Waffenstillstandsabkommen vor zehneinhalb Kriegsmonaten an hartnäckigen Einwänden der NATO und insbesondere Großbritanniens.

Abzug gegen Neutralität

Die Gespräche über ein Waffenstillstands- oder sogar Friedensabkommen zwischen der Ukraine und Russland waren im März 2022 tatsächlich relativ weit gediehen. Das ließ sich damals Berichten diverser Leitmedien aus mehreren westlichen Staaten klar entnehmen. So zitierte etwa der britische Daily Telegraph am 3. April 2022 eine Äußerung, die David Arachamija, einer der ukrainischen Verhandlungsführer, im ukrainischen Fernsehen getätigt hatte: „Die Russische Föderation hat eine offizielle Antwort auf alle unsere Vorschläge gegeben“; Moskau habe „die ukrainische Position akzeptiert außer der Krimfrage“.[1] Die ukrainische Position bestand vor allem darin, dass Russland seine Truppen aus der Ukraine abziehe – bis auf den Donbass und die Krim. Der russische Verhandlungsführer Wladimir Medinski wiederum wurde mit der Aussage zitiert, Kiew habe sich darauf eingelassen, was Moskau bereits seit 2014 fordere; gemeint war, wie der Daily Telegraph erläuterte, vor allem die Neutralität der Ukraine. Arachamija ergänzte, man werde die Sache nun in trockene Tücher bringen; dann könnten die Präsidenten beider Länder zusammenkommen und alles auf höchster Ebene abschließen. Er habe bei alledem allerdings „das Gefühl, dass die Vereinigten Staaten und Großbritannien die letzten sein werden, die sich darauf einlassen“ – wohl erst dann, „wenn sie sehen, dass alle anderen zustimmen“.[2]

„Die Ukraine braucht Frieden“

Mit dem Bericht des Daily Telegraph decken sich Schilderungen diverser ehemaliger US-Regierungsmitarbeiter, die zwei bekannte US-Russland-Expertinnen, Fiona Hill und Angela Stent, im September in der US-Zeitschrift Foreign Affairs wiedergaben. Hill war mehrere Jahre lang im Nationalen Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten tätig gewesen. Den US-Regierungsmitarbeitern zufolge „schienen sich russische und ukrainische Verhandler auf die Umrisse einer vorläufigen Verhandlungslösung geeinigt zu haben“, laut der Russland sich „auf seine Stellungen vom 23. Februar zurückziehen“ werde, während die Ukraine „zusage, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und sich stattdessen um Sicherheitsgarantien einer Reihe von Staaten“ zu bemühen.[3] Aufbauend auf diesem Verhandlungsstand sprach sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj noch am Abend des 4. April 2022 für einen schnellen Waffenstillstand aus. Selenskyj forderte bei einem Besuch in der Stadt Butscha: „Die Ukraine muss Frieden bekommen.“[4]

Der Wunsch nach Waffenstillstand

Weitere Aufschlüsse bringen Aussagen aus einem Interview mit dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett, der sich Anfang März vergangenen Jahres als Vermittler zwischen Moskau und Kiew betätigte. Bennett berichtet, damals seien sowohl der russische Präsident Wladimir Putin als auch Selenskyj zu Zugeständnissen bereit gewesen, um den Krieg zu stoppen: Putin habe die Forderung nach „Entmilitarisierung“ und „Entnazifizierung“ der Ukraine zurückgezogen – Letzteres zielte auf einen Regime Change –, während Selenskyj bereit gewesen sei, auf die ukrainische NATO-Mitgliedschaft zu verzichten. Beide seien „pragmatisch“ aufgetreten und hätten seinem Eindruck nach „stark einen Waffenstillstand“ gewünscht; in einem Verhandlungsmarathon seien zahlreiche Entwürfe für ein Abkommen erarbeitet worden. Dann jedoch hätten die westlichen Mächte die Verhandlungen gestoppt.[5] Er sei sich sicher, es habe „eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gegeben“, bekräftigt Bennett, der auf die entsprechende Nachfrage des Interviewers („wenn sie“, die westlichen Mächte, „das nicht gedrosselt hätten?“) nickt.

Die NATO interveniert

Dass die reale Chance auf einen Waffenstillstand oder gar ein Friedensabkommen damals von den westlichen Mächten verhindert wurde, bestätigen auch Recherchen des Diplomaten Michael von der Schulenburg, eines ehemaligen Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen. Laut von der Schulenburg sollte die Einigung auf ein Abkommen – Rückzug der russischen Truppen, Verzicht der Ukraine auf NATO-Mitgliedschaft und auf Errichtung westlicher Militärstützpunkte auf ihrem Territorium – am 29. März in Istanbul beschlossen werden.[6] Auf einem Sondergipfel am 23. März in Brüssel verlangte die NATO dann allerdings, schon vor weiteren Verhandlungen müsse Russland die Waffen schweigen lassen und seine Truppen abziehen; ein möglicher Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wurde nicht erwähnt.[7] Von der Schulenburg stuft dies als letztlich erfolgreichen Versuch ein, „die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen zu beenden“. Wenig später, stellt der Diplomat fest, änderte Russland seine Strategie und setzte nun darauf, „durch die Besetzung ukrainischen Territoriums den Beitritt der Ukraine zur NATO verhindern und seinen Zugang zum Schwarzen Meer schützen zu können“.

Boris Johnson reist nach Kiew

Dazu, wie der Westen seine Gegnerschaft zu einem frühen Ende des Krieges nach Kiew übermittelte, liegen ebenfalls mehrere offen zugängliche Quellen vor, insbesondere britische und ukrainische Medienberichte. So hieß es in der britischen Times, die Regierung in London sei „besorgt“ gewesen, „einige Verbündete“ – genannt wurden vor allem Deutschland und Frankreich – seien „allzu begierig“ gewesen, dass Selenskyj eine Vereinbarung unterzeichne. Premierminister Boris Johnson habe deshalb am letzten Märzwochenende 2022 Selenskyj angerufen und ihn vor weiteren Verhandlungen „gewarnt“; zugleich habe London Kiew neue Waffen in Aussicht gestellt, etwa Drohnen.[8] Auch die Ukrainska Prawda brachte Johnson mit dem Ende der Friedensverhandlungen in Verbindung: Als der britische Premierminister am 9. April persönlich in Kiew eingetroffen sei, habe er die „Botschaft“ mitgebracht, der Westen sei zu der Auffassung gekommen, Putin sei nicht so mächtig, wie man zuvor gedacht habe, und es gebe eine Chance, ihn „unter Druck zu setzen“.[9] Drei Tage danach, stellt die Ukrainska Prawda fest, teilte Putin offiziell mit, die Gespräche mit der Ukraine über ein Waffenstillstandsabkommen steckten „in einer Sackgasse“. Dabei blieb es.

Wo entschieden wird

Gestern, fast ein Jahr nach Kriegsbeginn und zehneinhalb Monate nach der Sabotage des russisch-ukrainischen Waffenstillstandsabkommens durch den Westen, beklagte der einstige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, in der NATO gebe es gegenwärtig, was den auf Insistieren führender NATO-Mitglieder nicht beendeten Krieg anbelange, keine einheitliche Linie. „Deswegen bin ich der Meinung“, teilte Ischinger mit, es sei notwendig, „eine politisch-strategische Kontaktgruppe“ einzurichten, „um die westlichen [!] Kriegsziele so klar zu definieren, dass wir alle wissen ..., wo es hingeht“.[10] Man müsse sich etwa festlegen: „Wollen wir tatsächlich die Ukraine ermuntern, die Krim militärisch zurückzuerobern?“ Dazu gebe es gegenwärtig „ein weites Spektrum unterschiedlicher Meinungen“. Über sie entschieden wird letzten Endes nicht in Kiew, sondern im Westen.

 

[1], [2] Nataliya Vasilyeva: Russia has agreed to almost all of our peace proposals, says Ukrainian negotiator. telegraph.co.uk 03.04.2022. S. auch „Alles unterhalb eines Kriegseintritts”.

[3] Fiona Hill, Angela Stent: The World Putin Wants. Foreign Affairs, September/October 2022. S. 108-1022.

[4] Verhandlungen im Ukraine-Krieg: Selenskyj äußert sich zu möglichen Gesprächen. fr.de 04.04.2022.

[5] Branko Marcetic: The Grinding War in Ukraine Could Have Ended a Long Time Ago. jacobin.com 08.02.2023.

[6] Michael von der Schulenburg: Es geht darum, den Frieden zu gewinnen – nicht den Krieg. makroskop.eu 11.10.2022.

[7] Statement by NATO Heads of State and Government. nato.int 24.03.2022.

[8] Steven Swinford, Larisa Brown, Bruno Waterfield: Don’t back down, Britain urges Ukraine. thetimes.co.uk 31.03.2022.

[9] Iryna Balachuk, Roman Romaniuk: Possibility of talks between Zelenskyy and Putin came to a halt after Johnson’s visit – UP sources. pravda.com.u 05.05.2022.

[10] Ischinger fordert Klarheit über Kriegsziele des Westens. tagesschau.de 14.02.2023.

 

 

Eine von mittlerweile vielen Stimmen - über:

Die Verantwortung des Angegriffenen

  • Von Reinhard Merkel  -  Aktualisiert am

Reinhard Merkel ist emeritierter Professor für für Strafrecht und für Rechtsphilosophie der Universität Hamburg und Mitglied des Deutschen Ethikrates bis 2020

Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ist völkerrechtswidrig und das Land dazu verpflichtet, die Gewalt zu beenden. Gibt es aber auch eine Pflicht für die Ukraine, sich auf Verhandlungen einzulassen?

Die Anfänge der Lehre vom gerechten Krieg reichen zurück in die vorsokratische Antike. Systematisch ausgearbeitet wurden sie erst von den scholastischen Theologen und den Juristen des kanonischen Rechts im späten Mittelalter. Die Gründerväter des neuzeitlichen Völkerrechts im 16. und 17. Jahrhundert nahmen die Entwürfe auf und entwickelten sie weiter: zur vernunftrechtlichen Ordnung einer europäischen Staatenwelt, die sich mit dem Westfälischen Frieden von 1648 neu zu formieren begann. Grundlage ihrer Rechtsbeziehungen wurden moderne Prinzipien der Staatlichkeit ihrer Subjekte: deren Souveränität, ihre Gleichheit und die Undurchdringlichkeit ihrer territorialen Grenzen wie ihrer inneren Angelegenheiten gegen Interventionen von außen.
Seither unterscheiden alle Theorien des gerechten Kriegs zwei normative Grundfragen: die nach dem Recht zum Krieg (ius ad bellum) und die nach dem Recht im Krieg, den zulässigen Formen militärischer Gewalt (ius in bello). Kant schärfte in seiner „Rechtslehre“ den Blick für die Notwendigkeit einer dritten Kategorie: für das Recht nach dem Krieg (ius post bellum), die Pflichten der Konfliktparteien nach dem Ende ihrer Kämpfe. Diese Dreiteilung der Frage nach der Gerechtigkeit von Kriegen spiegelt sich, wiewohl unvollständig, auch in der Entwicklung des Völkerrechts bis in die Gegenwart.

Wer könnte die Pflicht einfordern?

Erst in jüngster Vergangenheit erkannte man, dass die klassische Trias der Normen legitimer Kriegführung eine empfindliche Lücke aufwies. Darrell Moellendorf, Philosoph an der Universität Frankfurt, gab ihr einen sprechenden Titel, der sich durchsetzte: „ius ex bello“. Knapp und grob: Gibt es schon während des Gewaltgeschehens für alle Konfliktparteien rechtsprinzipielle Pflichten, sich um Wege ex bello zu bemühen, um ein Ende des Kriegs, und zwar selbst dann, wenn dies ihre militärischen oder politischen Ziele vereiteln würde?
Für Kriege, in denen außer Zweifel steht, wer Aggressor und wer Angegriffener ist, erhält die Frage eine besondere Schärfe. Denn solche Ex-bello-Pflichten könnten das Recht des Angegriffenen, sich zu verteidigen, beschränken oder unterlaufen. Damit sind wir beim Krieg in der Ukraine. Russlands Invasion war völkerrechtswidrig, und seine weitere Kriegführung bleibt dies. Dass der Aggressor verpflichtet ist, die Gewalt zu beenden und zum Status quo ante zurückzukehren, versteht sich. Warum aber sollte, solange das nicht geschieht, die Ukraine verpflichtet sein, sich auf Verhandlungen einzulassen und ihren Kampf womöglich zu beenden, bevor dessen Ziele erreicht sind? Was könnte diese Pflicht begründen? Und wer könnte sie einfordern? (Der Aggressor?)

Recht zur Selbstverteidigung

Das Völkerrecht kennt keine Pflicht zur Selbstverteidigung. Es erlaubt dem angegriffenen Staat, der nach Artikel 51 der UN-Charta ein „naturgegebenes Recht“ zur Selbstverteidigung hat, sich zu wehren, solange die Aggression andauert und solange er will und kann. Daraus folgt nicht, dass seine Kriegführung keine moralischen Grenzen hätte. Zwei davon sind offensichtlich (wann sie erreicht wären, ist eine andere Frage): erstens das Risiko eines Nuklearkriegs und zweitens ein unerträgliches Missverhältnis zwischen den Zielen der Selbstverteidigung und deren Kosten an menschlichem Leben und Leid – nicht nur der Zivilbevölkerung, sondern auch der Soldaten. Zwar haben Kombattanten, egal ob sie zur Armee des Aggressors oder des Verteidigers gehören, eine symmetrische Erlaubnis, einander zu töten. Dieses zwielichtige Privileg moralisch zu rechtfertigen ist aber bislang weder den Völkerrechtlern noch den Philosophen gelungen.
Das Schweigen des Völkerrechts zum ius ex bello überlässt dessen Begründung der politischen Ethik. Die zuständigen Argumente korrespondieren mit denen des ius ad bellum für gerechte Kriege. Denn gerechtfertigt kann die Fortsetzung der eigenen Gewalt nur so lange sein, wie die legitimierenden Gründe für deren Beginn fortbestehen. Aber die äußeren Umstände, auf denen die anfängliche Rechtfertigung beruhte, mögen sich im Verlauf eines Kriegs dramatisch verändern – und mit ihnen das moralische Urteil über seine Verlängerung. Die klassische Doktrin des ius ad bellum kannte neben formellen Bedingungen jeder Kriegführung (Autorisierung, Erfolgsaussicht, Verhältnismäßigkeit) eine ganze Reihe materieller Gründe ihrer Gerechtigkeit: Schutz der (eigenen) Religion in anderen Ländern, Hilfe für unterdrückte Völker, präventive Sicherung der Mächtebalance, territoriale Konflikte, Bestrafung von Rechtsbrüchen und schließlich die Selbstverteidigung und die Nothilfe gegen die Aggression Dritter.
Das heutige Völkerrecht akzeptiert davon nahezu nichts mehr. Nur die individuelle und kollektive Selbstverteidigung gilt ihm als legitimer Kriegsgrund. „Gerechte Kriege“ kennt es nicht mehr. Selbst ein Krieg zur Verteidigung ist nicht schon deshalb gerecht, wiewohl ihn die UN-Charta zum Naturrecht nobilitiert. Man stelle sich den Angriff gegen ein Tyrannenregime finsterster Provenienz vor, Nordkorea etwa. Er werde, nehme man an, von demokratischen Staaten im Zeichen globaler Mindeststandards der Menschenrechte geführt und verfolge allein das Ziel, ein Volk aus seiner Knechtschaft zu befreien. Der angegriffene Staat hätte fraglos ein Recht zur Selbstverteidigung, jeder andere dürfte ihm helfen. Die menschenrechtsfreundlichen Angreifer dagegen machten sich der Aggression schuldig: eines völkerrechtlichen Verbrechens. Dass aber ein solcher Krieg zur Verteidigung der eigenen Tyrannis gerecht wäre, wird niemand behaupten wollen.
Kurz: das Völkerrecht hat die Legitimation militärischer Gewalt entmoralisiert. Der Schutz des globalen Friedens hat Vorrang vor der Gerechtigkeit. Man mag diesen Schutz für ein Postulat von Moral und Gerechtigkeit halten. Plausibler versteht sich das Gewaltverbot als Stabilitätsbedingung jeder Normenordnung, auch einer ungerechten (wie der heutigen Weltordnung). Als eine solche Bedingung, sagt Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“, wäre es zwingend „selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)“. Die zweite (und letzte) Möglichkeit der Rechtfertigung militärischer Gewalt, ihre Autorisierung durch den Weltsicherheitsrat nach Kapitel VII der UN-Charta, unterstreicht den prinzipiellen Vorrang der Friedensmaxime. Eine solche Autorisierung ist kein Rechtszwang für die Interessen einzelner Staaten, sondern Ausübung eines globalen Gewaltmonopols zugunsten des Friedens aller. Auch das Recht auf Selbstverteidigung steht unter diesem Vorbehalt. Zieht der Sicherheitsrat die Regelung eines Konflikts an sich und trifft „die zur Wahrung des Weltfriedens . . . erforderlichen Maßnahmen“ (Artikel 51 der UN-Charta), so endet die Freiheit des angegriffenen Staates, über Fortsetzung oder Beendigung seines Kampfes zu entscheiden. Erließe der Rat eine Resolution, die beide Kriegsgegner zum Waffenstillstand verpflichtete, entfiele auch für den Angegriffenen das Recht auf weitere Gewaltanwendung. Verantwortung der Ukraine
Das alles indiziert eine Pflicht der Regierung in Kiew, Verhandlungen ex bello zu akzeptieren und deren konzessionslose Ablehnung zu beenden. Diese Pflicht ist, im Unterschied zu der Moskaus, kein unmittelbares Gebot des Völkerrechts, wohl aber eines der politischen Ethik. Ihre Basis ist eine spezifische Verantwortung auch der ukrainischen Regierung und reicht über die triviale Grundnorm jeder Moral, menschliches Leid zu vermeiden, weit hinaus. Denn die Ukraine ist kausal beteiligt an der fortdauernden Erzeugung des Elends dieses Krieges. Der schlichte Befund, so unbestreitbar er ist, löst regelmäßig Empörung aus. Sie gründet vermutlich in der Intuition, die defensive Beteiligung an einem Konflikt, den ein anderer als Aggressor zu verantworten habe, schließe jede Zurechnung seiner Folgen an das Aggressionsopfer aus. Auch in der Politik ist dieser Gedanke populär. An den Kommentaren zu dem jüngsten Einschlag ukrainischer Raketen in einem polnischen Dorf ließ sich das ablesen. Ohne Russlands Angriffskrieg, so hieß es, geschähen solche Dinge nicht; auch für sie sei daher allein Moskau verantwortlich.
Aber das ist gewiss falsch. Man unterstelle hypothetisch, die Rakete sei vorsätzlich in ihr Ziel gelenkt worden. Selbstverständlich wären die Urheber dafür verantwortlich, und übrigens sie allein, nicht außerdem noch Moskau als der Urheber des Krieges. Auch Kriegsverbrechen ukrainischer Soldaten geschähen nicht, hätte Russland den Krieg nicht begonnen. Wer käme ernsthaft auf die Idee, daher seien für solche Verbrechen nicht ihre Täter, sondern Russland selbst verantwortlich? Um Missverständnisse zu vermeiden: Nichts spricht im Fall der Raketeneinschläge in Polen für einen Vorsatz der Schützen. Aber auch im wahrscheinlichen Fall ihrer Fahrlässigkeit tragen sie am Tod der beiden Opfer eine Mitschuld, die von dem Urheber des Krieges freilich geteilt wird. An Russlands Verantwortung für den Hintergrund des trostlosen Geschehens besteht ja kein Zweifel. Das schließt die eigene Verantwortlichkeit der Ukraine aber nicht aus.
Etwas verantworten müssen ist nicht gleichbedeutend mit schuldig sein. Die Verantwortung mag sich ja, anders als die des Aggressors, tragen lassen, und selbst ihre katastrophalen Folgen mögen gerechtfertigt sein. Bis zu welchen Grenzen? Irgendwann kommen die des nicht mehr Legitimierbaren in den Blick: das atomare Risiko für die Welt und die Zerstörung der Ukraine, des Lebens und der Zukunft ihrer Menschen. Lange vor diesen Grenzen beginnt die moralische Pflicht auch des Aggressionsopfers, mögliche Alternativen zur Fortsetzung des blutigen Grauens zu erwägen und in Verhandlungen zu klären. Die Pflicht des Angreifers, seine Aggression zu beenden, versteht sich (noch einmal) von selbst. Aber ihre Verweigerung hebt moralische Bindungen der ukrainischen Regierung nicht auf – weder gegenüber dem Rest der Welt noch und vor allem gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung und ihren Soldaten.

Jenseits der Schmerzgrenze

Viele glauben, eine Pflicht ex bello lasse sich so nicht begründen. Ob die Ukraine über einen Waffenstillstand verhandeln wolle oder nicht, sei ihre Sache, in die sich niemand einzumischen habe. Das überzeugt nicht. Gewiss trifft es in einem belanglos formellen Sinne zu, dass für die Entscheidung, den Krieg fortzusetzen, die Regierung in Kiew zuständig ist – so wie es für die Entscheidung, ihn zu beginnen, die Regierung in Moskau war. Das schließt Kritik daran nicht aus. Denn dafür gelten die Normen des Völkerrechts und der politischen Ethik, nicht die Kriterien von Machthabern. Jeder Krieg, sein Beginn, seine Dauer wie sein Ende, ist von gravierender Bedeutung für die ganze Welt. Die UN-Charta, Gründungsurkunde des heutigen Völkerrechts, lässt daran keinen Zweifel und die Ethik erst recht nicht. Für das Risiko eines Atomkriegs, das zwar gering, aber wegen seiner apokalyptischen Dimension dennoch zu hoch ist, liegt das auf der Hand. Es gilt aber auch für ein ins Maßlose wachsende Elend aller, die in das Gewaltgeschehen zwangsinvolviert sind: neben Hunderttausenden von Soldaten beider (ja, beider) Armeen viele Millionen Ukrainer, von denen Tausende den Winter nicht überleben werden.
Die Ukraine mag diesen Krieg am Ende gewinnen können, politisch und vielleicht auch militärisch, aber allenfalls mit einer Zerstörungsbilanz, die dem Begriff eines solchen Sieges keinen fassbaren Sinn mehr beließe. Der Gedanke deutet an, wie irreführend die Analogie zwischen staatlichem Verteidigungskrieg und individueller Notwehr ist. Wer als Person angegriffen wird und sich wehrt, darf das mit jedem Risiko für sich selbst und bis zum Verlust seines Lebens tun. Aber Regierungen haben Schutzpflichten gegenüber den Bürgern ihrer Länder. Dazu gehört auch die Verteidigung des Staates gegen Aggressoren, aber der Schutz von Leib und Leben und Zukunft seiner Bürger ebenfalls. Jenseits einer Schmerzgrenze, an der die Verwüstung des Landes und der Menschen jede moralische Proportionalität übersteigt, noch immer allein auf die Fortsetzung der Gewalt zu dringen und jede Verhandlung über deren Ende abzulehnen ist nicht tapfer, sondern verwerflich.
Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandlungen können scheitern, man kann sie auch scheitern lassen. Die Ukraine hat keinerlei Veranlassung, irgendeine der völkerrechtswidrigen Annexionen ihres Territoriums seit Februar dieses Jahres anzuerkennen. Mit der Krim und deren avisierter Rückeroberung verhält sich das allerdings anders. Keine Rolle spielt dabei, ob der Anschluss der Krim an Russland 2014 eine Annexion war oder nicht. Völkerrechtswidrig war das russische Verhalten jedenfalls, vielleicht auch ein bewaffneter Angriff, wiewohl kein einziger Schuss fiel und niemand verletzt wurde.

Kopfschüttelnde Zurückweisung

Doch seither steht die Krim unter einer russischen Administration, der die große Mehrheit ihrer Bevölkerung zustimmt. Aus der ehedem rechtswidrigen Okkupation ist der stabile Zustand einer befriedeten Ordnung entstanden. Damit gewinnt die Friedensmaxime der UN-Charta, die Grundnorm ihres Gewaltverbots, Dominanz über abweichende Erwägungen zur territorialen Gerechtigkeit. Zugleich endet für die Ukraine die Möglichkeit, eine militärische Rückeroberung der Krim als Selbstverteidigung zu rechtfertigen. Das mag man missbilligen. „Der Besitzschutz des Räubers“, schrieb der Völkerrechtler Walter Schätzel schon 1953 über jene Maxime der Charta, „ist unerträglich.“ Vielleicht. Aber es geht nicht um Besitz-, sondern um Friedensschutz.
Nur wenn die friedliche Verwaltung der Krim seit neun Jahren ein permanenter „bewaffneter Angriff“ Russlands wäre, hätte die Ukraine auch jetzt noch, womöglich ad infinitum, ein Recht zur gewaltsamen Revision. Für diese These spricht wenig. 1982 hat Argentinien, nachdem es die Falkland-Inseln besetzt hatte, in einem Schreiben an den Sicherheitsrat ein analoges Argument bemüht. Die Okkupation der Inseln durch England 1832 sei rechtswidrig gewesen: ein bewaffneter Angriff. Dieser dauere seither fort. Mit der Rückbesetzung übe Argentinien lediglich sein Recht auf Selbstverteidigung aus. Der Rat hat das Argument in wenigen Zeilen, fühlbar kopfschüttelnd, zurückgewiesen.

Ein Angriff auf die Krim wäre illegitim

Nun sind eineinhalb Jahrhunderte friedlicher Regierung naturgemäß ein gewichtigerer Umstand als knapp neun Jahre russischer Verwaltung auf der Krim. Wie viele Jahre reichen? Darüber kann man streiten (und tut es auch). Aber entscheidend ist nicht die schiere Dauer der Verwaltung, sondern das Maß der mit ihr erreichten normativen Stabilität und die Gewähr ihrer friedlichen Zukunft. Historische, kulturelle, sprachliche und religiöse Hintergründe können dafür eine bedeutendere Rolle spielen als die formelle Souveränität über das Territorium. Für die Krim ergibt sich hieraus ein klarer Befund. Die Bewohner der Halbinsel fühlen sich mehrheitlich als Russen; längst vor 2014 wollten sie den staatsrechtlichen Wechsel. Diesen nun mit Gewalt zu revidieren, dafür Tausende weiterer Menschenleben zu zerstören und unauslöschliche Spuren des Hasses in den Überlebenden zu hinterlassen, schriebe einen düsteren Plan für die Zukunft der Krim und ihrer Bewohner.
Begänne die Ukraine mit dem Versuch einer militärischen Rückeroberung der Krim, so begänne sie einen neuen Krieg. Er wäre nicht die Fortsetzung der Verteidigung gegen die russische Aggression vom vergangenen Februar, sondern selbst ein bewaffneter Angriff. Das sollte die Bundesregierung bei weiteren Waffenlieferungen bedenken. Deren Bedingungslosigkeit war immer verkehrt, politisch wie moralisch. Sollten die künftigen Lieferungen irgendwann zur Rückeroberung der Krim verwendet werden, würde aus diesem Fehler eine Verletzung des Völkerrechts.

 

 

 

 

Wenn nicht ein Wunder passiert, stehen uns harte Zeiten bevor. Wir sind auf dem besten Weg in eine multiple Krise. Drei Krisen sind miteinander verwoben. Der Krieg in der Ukraine, die sich zuspitzende Klimakrise und eine tiefe soziale Krise, die bisher wegen rapide steigender Preise schon den weniger vermögenden Teilen der Bevölkerung stark zusetzt und sich allen Anschein nach zu einer Rezession auswächst. Leider ist selbst in weiten Teilen der Linken kein Thema, dass der Krieg in der Ukraine als Verstärker für die beiden anderen Krisen wirkt.

Frieden ist nicht Alles, aber ohne Frieden ist Alles nichts

In der aktuellen Lage ist konsequente Friedenspolitik ein elementarer Bestandteil des Kampfes gegen die drohende Klimakatastrophe. Schon der bloße Betrieb der Kriegsmaschinerie (Bewegungen von Panzern, Lkws und Flugzeugen ist schlimm für Klima und Umwelt. Wenn im Zuge der Kämpfe Gebäude, Kriegsgerät oder gar Tanklager in Brand gesetzt werden, sind das Katastrophen für das Klima.

Der Vorrang militärischer Erwägungen vor dem Klimaschutz führt dazu, dass mittlerweile in der BRD ein Rollback in der Klimaschutzpolitik (Verstärkter Einsatz von LNG und die Verlängerung der Laufzeiten für Kohlekraftwerke) stattfindet. In der Mainstreamgesellschaft ist das kein Thema, der Protest aus den Reihen der Klimabewegung ist erschreckend schwach.

Wenn die NATO-Staaten mit Russland sich auf eine Vereinbarung zur Einstellung der Kampfhandlungen und eine Deeskalation des Konfliktes verständigen würden, würde auch ein Kompromiss in der Frage der Sanktionen und somit die Wiederaufnahme der Gaslieferungen durch Russland in den Bereich des Möglichen rücken. In diesem Fall würde es wieder möglich, jene Teile der Infrastruktur, die sich nicht kurzfristig von Gas auf regernative Energien umstellen lassen, wieder mit dem weniger „schmutzigen“ russischen Gas zu betreiben.

Die Klimafrage ins Zentrum stellen

In den letzten Monaten haben wir einen kleinen Vorgeschmack auf das bekommen, was uns erwartet, wenn wir die Klimakatastrophe nicht so schnell wie möglich aufhalten. Die nächsten paar Jahre werden ausschlaggebend dafür sein, ob die Erderwärmung auf 1,5 Grad beschränkt und das Sterben von Millionen Menschen, Arten und die Verödung ganzer Erdregionen noch verhindert werden können. Im Zentrum unserer Bemühungen muss die Verhinderung oder zumindest die deutliche Abschwächung der Klimakatastrophe stehen. Alle ergriffenen und vorgeschlagenen Maßnahmen sind daran zu messen, ob sie einen Beitrag zur Reduzierung der Treibhausgase bringen.

Die Zeit drängt – Mehr Tempo bei der Klimawende

Wir brauchen zunächst eine Reihe von Sofortmaßnahmen, die schnell umsetzbar sind. Leicht umzusetzen und mit großer Wirkung wäre beispielsweise ein allgemeines Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen, 80 km/h auf Landstraßen und 30 km/h innerorts, die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs und die Einführung einer Kerosinsteuer. Auch autofreie Sonntage sind in diesem Zusammenhang überlegenswert.

Ökologischer Umbau und Arbeitsplätze

Angesichts des beschleunigten Klimawandels ist es dringend geboten, dass eine ganze Reihe von Produktionsbereichen, die schädliche Auswirkungen auf das Klima haben, entweder radikal umgebaut oder sogar ganz rückgebaut werden. Das betrifft gerade einige Branchen, die in der Volkswirtschaft der BRD eine herausragende Stellung einnehmen wie die Autoindustrie und wichtige Teil der Chemieindustrie (Reduktion der Kunststoff-, Düngemittel- und Pflanzengiftproduktion). Die Konsumgüterindustrie sollte auf langlebige, recyclingfähige und reparaturfähige Produkte umgestellt werden. Andere Sektoren wie das Militär, die Banken, die Werbeindustrie oder auch die Luftfahrtindustrie sind radikal zurückzubauen oder ganz zu streichen. Letztlich steht nicht nur der Kapitalismus, sondern auch die Struktur der BRD als Industriegesellschaft in der heutigen Form zur Disposition.

Mit dem Rückbau von Industriesektoren geht natürlich ein Verlust von Arbeitsplätzen in diesen Branchen einher. Trifft es also zu, dass Ökonomie und Ökologie in schroffem Widerspruch zueinander stehen? Nein, das trifft nicht zu. Denn beim notwendigen ökologischen Umbau der Industriegesellschaft und bei Fitmachung unserer Städte für die Bewältigung der sich häufenden Extremwetterlagen fällt eine Unmenge von Arbeit an – viel mehr Arbeit als durch die Stillegung nicht-nachhaltiger Produktionssektoren verloren geht.

Für die zahlenmäßig kleine ökosozialistische Linke stellt sich die Aufgabe, konkrete, für breite Bevölkerungskreise nachvollziehbare Vorschläge dazu zu entwickeln, wie diese radikale Umstrukturierung unserer Industriegesellschaft aussehen kann. Das erfordert eine detaillierte Kenntnis der Produktionsprozesse und der Produkte, die in den Fabriken hergestellt werden. Angesichts der Tatsache, dass die Linke sich weitgehend aus dem betrieblichen Sektor als Tätigkeitsfeld verabschiedet hat und deshalb bezüglich dessen, was dort abgeht, ahnungslos ist, ist die Aufgabe, die vor uns liegt, wahrlich eine „Challenge“.

Beschleunigter Umbau des Energiesektors

Beim Ausbau von erneuerbaren Energien wie Windkraft, Solarenergie oder der Nutzung der Wasserkraft in Form von Wellenkraftwerken oder Gezeitenkraftwerken gibt es ein großes Potential für neue Arbeitsplätze. Dazu kommt der notwendige Umbau beziehungsweise Ausbau des Stromnetzes. Für die Menschen, die bisher im Bereich der Erzeugung fossiler Energie tätig sind, gibt es die Möglichkeit, auf Tätigkeiten im Bereich der erneuerbaren Energie umzuschulen. Die Autoren der britischen Studie „One Million Climate Jobs“ gehen davon aus, dass durch den Umstieg auf erneuerbare Energien in Großbritannien 560.000 mehr Arbeitsplätze neu geschaffen werden als durch den Ausstieg aus den fossilen Energien verloren gehen. Wenn es im Konkreten natürlich Unterschiede zwischen der Situation in der BRD und Großbritannien gibt, so dürfte in der bevölkerungsreicheren BRD von einem ähnlichen Zusatzbedarf an Arbeitskräften auszugehen sein.

Gute Arbeit und soziales Wohlergehen durch sozialökologischen Umbau

Beispiel Autoindustrie

In dem 2022 erschienen Buch „Spurwechsel – Studien zu Mobilitätsindustrien, Beschäftigungspotenzialen und alternativer Produktion“ haben die Autoren herausgearbeitet, dass es für eine echte Mobilitätswende eine andere industrielle Produktion und vor allem unglaublich viele Arbeitskräfte braucht. Nötig wären viel mehr Busse, Straßenbahnen, Züge im Regional- und Fernverkehr, neue Leitsysteme, E-Bussysteme mit Oberleitungen, Nutzfahrzeuge von der Feuerwehr bis zur Polizei. Das muss alles hergestellt werden. Es geht nicht nur um wachsende Neubedarfe, sondern auch eine Erneuerung des Bestandes. Schließlich müssen beispielsweise alle Fahrzeuge auf klimafreundliche Antriebe umgestellt werden. Dazu gehört die Umstellung auf Digitalisierung von Netz und Betrieb. Hier besteht ein hoher Investitionsbedarf (mindestens 30 Milliarden Euro). Hinzu kommen die Reaktivierung und der Neuausbau von Strecken, der Bau von Weichen und die Erweiterung von einspurigen Strecken zu mehrspurigen Strecken, wodurch die Netzkapazität bedeutend erhöht wird und wofür viele Arbeitskräfte gebraucht werden.

Für das Szenario, das vorsieht, dass die Fahrgäste bei ÖPNV und Bahn um den Faktor 2,5 anwachsen, veranschlagt Mario Candeias, einer der Autoren der Studie, einen Mehrbedarf von 235.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen in dem Bereich Busse und Straßenbahnen. Hinzu kommt ein zusätzlicher Personalbedarf von zwischen 15.000 und 50.000 Arbeitsplätzen beim fahrenden Personal und beim Service bei Bahn und ÖPNV.

Beispiel Wohnungssektor

Die Autoren der Studie „One Million Climate Jobs“ untersuchen, wie hoch der Arbeitskräftebedarf für die ökologische Umrüstung von Wohnhäusern, Büro- und Verwaltungs- sowie gewerblich genutzten Gebäuden ist. Sie sehen für einen Zeitraum von zehn Jahren ein Potential von zusätzlichen 2.300.000 Arbeitsplätzen. Allein für das Umrüsten von Wohnhäusern und gewerblichen Gebäuden werden 2.200.000 Arbeiter*innen gebraucht. Dazu kämen 20.000 Energiegutachter*innen, 20.000 Retrofit-Designer*innen (Designen von Nachrüstungsarbeiten), Projektmanager*innen und 20.000 Support-Mitarbeitenden, die bei der Planung und Verwaltung helfen. Bei der Herstellung/Bereitstellung von Materialien für die Umrüstung der Gebäude würde Arbeit für weitere 200.000 Menschen anfallen. Da wir es im Bereich der Umrüstung von Gebäuden mit sehr komplexen Aufgaben zu tun haben, sind die Tätigkeiten entsprechend anspruchsvoll und erfordern ein hohes Maß an Qualifizierung.

Beispiel Pflege, Gesundheit, Bildung

Eine Studie der Rosa Luxemburg Stiftung sieht im Bereich Pflege, Gesundheit, Bildung ein Potenzial von bis zu vier Millionen zusätzlichen Beschäftigten. Schon allein im Kita-Bereich – von Krippen bis Horten – sind gegenüber heute gut 400.000 rechnerische Vollzeitkräfte an pädagogischem Personal mehr erforderlich, wenn zur Bedarfsabdeckung auch noch die Durchsetzung der fachlich empfohlenen Personalschlüssel hinzutritt. Einschließlich Verwaltung, Verpflegung, Reinigung, Supervision usw. liegt das Potenzial an zusätzlicher Beschäftigung noch deutlich höher. Im Bildungsbereich besteht Personalmangel von den Schulen über die Hochschulen bis zur Weiterbildung. Mit Blick auf konkrete Bedarfe, wie den Ausbau pädagogischen Ansprüchen genügender Ganztagsschulen, besseren Betreuungsverhältnissen, mehr Schulsozialarbeit und Inklusion, stellen sie einen zusätzlichen Bedarf von mehreren Hunderttausend Vollzeitstellen fest. In der Krankenhauspflege beläuft sich der Mehrbedarf auf mindestens 100.000 Vollzeitkräfte; in der Altenpflege ist er perspektivisch noch wesentlich höher. Würde bezogen auf die heute Pflegebedürftigen bei konstanter Versorgung durch pflegende Angehörige die Personalausstattung so gestärkt, dass fachliche Standards nicht nur auf dem Papier stehen, wären mehrere Hunderttausend Kräfte zusätzlich nötig. Tendenz zukünftig stark steigend. Auch im Bereich der kulturellen Dienste gibt es einen nicht unerheblichen Bedarf. Dieser bewegt sich, wenn vor allem auf die öffentliche Beschäftigung im Bereich Bibliotheken, Museen und Parks abgestellt wird, mit Blick auf Skandinavien im Bereich von 100.000 Stellen aufwärts. Eine große Rolle käme professionell geführten und zu kommunalen Begegnungsstätten ausgebauten öffentlichen Bibliotheken zu.

Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten: Tax the Rich

Die oben genannten Maßnahmen sind technisch machbar. Die Hürden für ihre Umsetzung liegen im politischen Bereich. Um das, was technisch machbar ist, Wirklichkeit werden zu lassen, bräuchte es grundlegende politische Veränderungen und tiefgreifende Umbrüche in den sozialen Strukturen in diesem Land. Klar ist, dass massive Investitionen erforderlich sind. Leider hat die Linke es bisher nicht zustande gebracht, detaillierte Studien über den Bedarf zu erstellen.

Parolen, die auf der Demonstration gegen den G7-Gipfel in München gerufen wurden, deuten an, um welche finanziellen Dimensionen es hier geht: „100 Milliarden für die Bildung“, „100 Milliarden für die Pflege“, „100 Milliarden für die erneuerbaren Energien“ oder „100 Milliarden für die Verkehrswende“. Die Kosten der notwendigen Investitionen für den ökologischen Umbau zentraler Sektoren der Gesellschaft aufzubringen, ist nur möglich, wenn ein Zugriff auf den unermesslichen Reichtum erfolgt, über den die kleine superreiche Minderheit verfügt.

Bekanntlich ist die BRD für die Superreichen ein Steuerparadies. Es gibt hier keine Vermögenssteuer und keine Erbschaftssteuer, die diesen Namen verdienen. Auf Gewinne aus Kapital und Aktien wird eine Billigsteuer erhoben. Die großen DAX-Konzerne haben ihr Vermögen in den vergangenen zwei Jahren massiv gesteigert. Oxfam spricht von „obszönen“ Krisengewinnen. Viele Milliarden Euros des Gelds der Reichen vagabundieren als Spekulationsgeld durch die internationalen Finanzmärkte auf der Suche nach der maximalen Rendite.

Zu Zeiten der Kohl-Regierung lagen der Spitzensteuersatz und die Steuern auf Unternehmensgewinne deutlich höher als heute. Wären die Steuern auf dem Niveau der Zeit der Kohl-Regierungen würde der Fiskus jährlich 45 bis 50 Milliarden Euro mehr in der Kasse haben.

Durch staatlich begünstigte Steuerhinterziehung wie die bewusste personelle Unterbesetzung der Finanzämter durch Steuerfahnder und eine Politik der gezielten Verhinderung von Betriebsprüfungen gehen nach Schätzung von monitor-Redakteuren jährlich potentiell 70 Milliarden Euro an Steuern verloren. Leider scheint Oxfam derzeit die einzige international wirklich relevante Organisation zu sein, die lautstark und konsequent eine stärkere Besteuerung von Unternehmen und hohen Vermögen verlangt. DIE LINKE hat zum Thema Steuern für Reiche viel Papier beschrieben. Aber in der täglichen politischen Arbeit spielt das Thema Umverteilung bei der Partei kaum mehr eine Rolle.

Die Eigentumsfrage stellen!

Wer ernsthaft den erforderlichen radikalen ökologischen Umbruch anstrebt, muss nicht nur massiv in die Besitzstände der Superreichen eingreifen, sondern kommt nicht darum herum, die Eigentumsfrage zu stellen, sprich maßgebliche Sektoren der Volkswirtschaft zu entprivatisieren und unter öffentliche Kontrolle zu stellen.

Erfreulicherweise ist in den letzten Wochen und Monaten eine Diskussion um Vergesellschaftung in Gang gekommen. Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ hat ein Buch vorgelegt, in dem sie skizziert, wie das konkret vonstattengehen kann. Es hat sich eine Initiative „RWE und Co. Enteignen“ gegründet, die für die Enteignung der Stromkonzerne und die Vergesellschaftung der Energieproduktion eintritt. Anfang Oktober gibt es in Berlin eine Konferenz „Vergesellschaftung – Strategien für eine demokratische Wirtschaft“, in der die Vergesellschaftung weiterer Sektoren der Volkswirtschaft auf der Themenliste stehen.

Es ist zu hoffen, dass es in den nächsten Monaten gelingt, den Begriff Vergesellschaftung mit konkretem Inhalt zu füllen, indem eine Erdung in den Problemen unseres Alltags hergestellt wird. Das ist der Weg, wie wir für unsere Konzepte der Umgestaltung von Infrastruktur und Industrie in weiteren Bevölkerungskreisen Zuspruch gewinnen und damit wieder wirkmächtig werden können.